Von 100 auf 0

Sie läuft weg, sie verschwindet,

ist nicht zurückzuholen, nicht umzukehren, 

nicht festzuhalten, nur erlebbar im Augenblick,

das was bleibt sind Erinnerungen.

Die Zeit … Zeit heilt alle Wunden, mit der Zeit vergeht der Schmerz, habe Geduld – so heißt es immer wieder. Hach ja manchmal scheint die Zeit nie vergehen zu wollen, manchmal scheint das Verlangen ewig anzudauern, manchmal will der Kampf, das Widerstehen einfach kein Ende nehmen. Mit der Zeit wird es einfacher! Ein oft gehörter Rat, ein leicht gesagter Satz, den auch ich häufig verwende. Doch was bitte wird einfacher? Das Essen? Das Entscheiden zum Essen oder nicht Essen? Die Gewissheit, dass ich essen darf und nicht gleich 5 kg mehr auf der Waage stehen? Wird es einfacher die unangenehmen Gedanken zu ertragen? Ja einfach ja, irgendwie etwas… letzte Woche 5 kotzfreie Tage! Und ja das Widerstehen war irgendwie einfacher auch  wenn das Verlangen extrem groß war. Mit jedem kotzfreien Tag wurde symbolisch ein Stein auf den Weg zur Toilette gelegt – eine Art Barrikade, die hilft nachzudenken bevor man direkt die Gedanken ausführt. Dann war ich ab Freitag zu Hause, dort waren keine Steine keine Mauer mehr, es war ein automatischer Prozess. Doris konnte sich auch am Samstag ausleben, ein Kotzgang reihte sich an den anderen, bei über 10 hörte ich auf zu zählen. Doch es gab auch Momente in denen ich Nein zum nächsten Fressanfall gesagt habe, Momente wo ich sagte: Genug gegessen, jetzt geh kotzen, hör auf zu essen!!! – Momente wo ich einen Funken Widerstand durchsetzte – Momente, die sich aus der kotzfreien Phase speisten. Ja ich habe neben einer kleinen körperlichen Erholung auch kopflich viel mitgenommen. Am Freitag und Samstag spielte Doris also eine große Rolle, war einfach präsent und es musste sein. Der Gedanke „Und wenn ich jetzt nicht nachgebe, wenn ich jetzt nicht kotzen gehe?“ war kaum noch vorhanden und wenn er auftauchte wurde er gleich wieder verworfen. Trotz allem war der Samstagabend gemeinsam mit den Nachbarn vorm Fernseher (ESC) schön und auch Doris schaffte ich einigermaßen in Grenzen zu halten, trotz des riesigem Angebot von Salzstangen über Schokolade bis zu Gummibärchen. Nach einem „schaufel alles rein was geht ohne das es groß auffällt“ -Mittagessen zu Hause bei meiner Familie – Ich hatte ja zum Muttertag gekocht, deswegen schmeckte es so toll…- fuhr ich am Sonntag wieder in meine Wohnung. Ich bekam Besuch. Ralph den ich vor ca. einem viertel Jahr auf dem Jakobsweg getroffen habe, kam auf seinem Pilgerweg von Spanien Richtung Berlin hier vorbei. Mit einer Sonnenblume, habe mich total gefreut – ich liebe ja Blumen und Pflanzen, auch wenn mein grüner Daumen, leider nicht grün ist… Erinnerungen und „Wow, wie schnell doch die Zeit vergeht“ – waren durch das erneute Treffen in meinem Kopf präsent. Über 2 Monate weile ich nun schon wieder in Deutschland – seit dem 09. März. Auf der einen Seite kommt es mir vor als wäre ich gerade eben noch auf dem Jakobsweg gewesen, auf der anderen Seite scheint es schon Jahre her zu sein. Ja die Zeit vergeht, kann nicht festgehalten werden, nur losgelassen und genutzt. (Und nutzen tue ich sie bestimmt nicht wenn ich den Tag überm Klo verbringe, eher verschwenden!) Ich spüre sie gerade wieder diese Wut auf Doris, ich will meine Zeit genießen und nicht verkotzen, ich will sie bewusst wahrnehmen und nicht im Schleier der Sucht an verrinnen sehen. Und so machte ich gestern Nachmittag einen Cut. Schon am Sonntag früh legte ich fest – wenn Ralph da ist kotze ich nicht! Es war ein guter Vorwand Doris einzusperren, Doris davonzuschwimmen, sie aufs offene Meer hinauszuwerfen. Sie rief und schrie zwar, meckerte und nervte, aber erreichte mich nicht. Ich verbrachte mit Ralph einen schönen Abend und am morgen nach einem gemütlichen Frühstück zog er weiter. Wir redeten viel, sehr viel, doch auch diese Begegnung war zeitlich begrenzt – aber vielleicht gibt es ein neues Treffen. Seit Anfang Februar ist er nu schon unterwegs, durch Portugal, Spanien, Frankreich, Schweiz, Deutschland, alleine und ein Stück mit seiner Frau und das mit über 50 – meinen Respekt hat er. Er läuft den Pilgerweg rückwärts, läuft zurück nach Hause, lernt jeden Tag loslassen. Ich aß, dadurch das er bescheid weiß von meiner Esstörung, hatte ich nicht den Druck mich verstellen zu müssen, „normal“ essen zu müssen, so konnte ich neben dem Kartoffelsalat fröhlich meine Salatblätter knabbern. Doris ignorierte ich einfach, wenn sie meinte mich anbrüllen zu müssen und mein neu erworbenes Fett am Bauch verhöhnte. Ich war auf dem Jakobsweg, ich bin mit meinem Körper 1000 km durch Spanien gelaufen, ich habe mit meiner Muskelkraft 10 kg täglich getragen, ich habe es geschafft. Geschafft mit meinem Körper, den ich leider auch damals nicht so pfleglich behandelte, wie er es nötig gehabt hätte, den ich trotz den Strapazen noch zum kotzen zwang, doch damit ist jetzt Schluss. Ich freunde mich jetzt mit meinem Körper an! Wie genau das aussehen wird weiß ich nicht. Doris sagt zwar: Wenn du kotzen gehst, hast du einen schönen Körper. Aber so langsam glaube ich echt die lügt. Es war so viel schöner ohne Doris und ist es gerade auch. Ich habe das Mittagessen mit Bravour gemeistert obwohl die Sterne schlecht standen. Letzte Woche hatte ich die Überzeugung – ich kämpfe gegen Doris, jede Sekunde, die sie sich bemerkbar macht, es war eine Methode die ja funktioniert hat, doch ich glaube gerade dadurch habe ich Doris vielleicht oft hervorgerufen, weil ich regelrecht auf sie gewartet habe. Jetzt ist es immer noch so – anders geht es nicht, immer zu lauere ich ob Doris da ist – klar ist sie dann da. Aber mit den fortschreitenden Tagen, auch wenn es wenige waren, habe ich doch schon gemerkt, dass diese Lauerstellung nachgelassen hat. Heute ist es aber eine ganz komische Einstellung: Schon zig mal habe ich dafür entschieden dem Fressanfall nach zu geben, nur um mich in der nächsten Sekunde wieder dagegen zu entscheiden (- habe ich keine anderen Hobbies?). Ich verabschiedete also Ralph heute morgen, um 12 wollte ich mich mit einer Freundin treffen. Das Mittag stand in den Sternen… Ich kann ja kotzen gehen, da ist es mir egal, was es wird… Doch immer wieder diese Stimme, du wolltest doch heute nicht kotzen, du hast doch gemerkt, das es einfach bescheuert ist und auch ohne geht, du schaffst das, sie weiß Bescheid. Irgendwo einen Salat essen gehen, wäre doch in Ordnung. Aber einen Salat? Pizza wäre viel geiler oder ein Eisbecher? … Hin und her – doch dann kam alles anders – sie sagte ab. Im Prinzip nicht schlimm, kann ja immer mal was dazwischen kommen … aber es warf mich komplett aus der Bahn. Jetzt sah ich auf einmal nur noch den freien Nachmittag der sich laut Doris super für einen FA eignete. Doch ich überlegte, ich überlegte sorgfältig ob es sich lohnen würde einen FA zu haben, was es verändern würde, wie elend ich mich danach fühlen würden – und es schien doch die Sonne, wäre es nicht viel schöner diese zu genießen? Eine Entscheidung musste her, mein Magen knurrte. Ich ging einkaufen und entschied mich für Zucchini gefüllt mit Tomate und Frischkäse. Iss ohne die Absicht kotzen zu gehen und schau was sich danach entwickelt. Es würde auch noch etwas Kartoffelsalat dazu, den hatte ich noch… Es war ok, wenn nur das Völlegefühl nicht gewesen wäre. Doch komischerweise schreckte mich die Vorstellung über der Toilette zu hängen total ab. So setzte ich mich gegen 14 Uhr auf das Fensterbrett am offene Fenster und genoss die Sonne, die mir warm und beruhigend ins Gesicht schien, auch wenn die Aussicht auf vorbeifahrende Autos nicht bombastisch ist. Ich schrieb Tagebuch, ich dachte nach, hörte Musik, las Texte, füllte Formulare aus, trank Kaffee und aß sogar neben Weintrauben auch einen Heidelbeerjoghurt dazu die sich durchsetzte, ab und zu saß ich einfach nur da und beobachtete die Leute auf der Straße – was die dachten war mir egal. Mir geht es gerade super, Doris wollte mich zwar immer wieder zum Fressanfall verführen, aber ich lies es nicht zu. Ja es war komisch – ich hatte einfach keine Lust auf einen Fressanfall, wozu hätte ich auch einen gebraucht? Zum Schwitzen hat mich schon die Sonne gebracht 😛  Und nun ist es schon halb 6 – wie war das mit der Zeit? Sie fließt dahin und „auf das loslassen kommt es an“ (Zitat Ralph), dann kann man wirklich genießen. Tja ich denke ich kann echt sagen, „Gestern Nachmittag habe ich Doris losgelassen“, mich nicht mehr an sie geklammert. Für wie lange weiß ich nicht, aber auch wenn Doris den ganzen Nachmittag schrie, bin ich doch optimistisch. Ich spüre heute einfach, dass ich ihr widerstehen kann, dass ich einen Fressanfall nicht will und brauche. Das es, auch wenn es Überwindung kostet, ok ist zu essen, ohne akribisch jede Kalorie zu zählen, das es ok ist auch Lebensmittel zu essen, weil ich gerade Lust darauf habe. Es wird auch wieder einen Rückfall geben, doch ich glaube auch, dass die kotzfreien Phasen vielleicht länger werden. Um die 2 Monate habe ich es letztes Jahr während der Therapie schon einmal geschafft. Doris wird sich noch stärker aufbäumen, doch ich bleibe dran, ich habe meinen Körper und meine Sturheit als Unterstützung. Gestern bin ich von Doris 100% auf Doris verschwinde ich lass dich 0% zu – will ich zu viel? Nein mit den radikalen Cut komme ich gerade gut klar – ich werde es einfach auf mich zukommen lassen…

War viel los in meinem Kopf gerade… Doch gerade habe ich das Gefühl viel leichter atmen zu können.

Lass die Sonne scheinen in meinen Kopf,

lass die Strahlen, die bedrückenden Gedanken wegbrennen,

lass Geborgenheit und Frieden in mir durch die Wärme entstehen,

Zufriedenheit und Liebe zu mir durch das leuchtende Licht.

Meine Körper und ich genießen noch etwas, die Restsonnenstrahlen, hoffe nur es wird kein Sonnenbrand 😛

Ja die Zeit vergeht, aber nimmt auch etwas mit, wenn man es loslässt. Manchmal will die Zeit einfach nicht vergehen. Mit der Zeit wird es manchmal schwerer, aber auch einfacher – die Hoffnung lebt von Geduld und Geduld wird von der Zeit gespeist.


Ganz Liebe sonnige Gedanken an alle!

Elli 😉

 

— Doris -> siehe Artikel „Mein Kugelfisch“

9 Gedanken zu “Von 100 auf 0

  1. Man sieht wie deine Gedanken bewusst anfangen sich den Situationen zu stellen, wie du allmählich „dahinter kommst“ was da so abgeht und wie Doris Taktik ausschaut. Mehr und mehr gehst du an die Quelle ran und das ist gut. Wenn du dort bist wirst du alles erkennen und aufdecken um dann alles einzureißen und gegen gute Gedanken einzutauschen. Daraus entsteht dann der Weg der Doris für immer aus deinem Leben verbannen wird. Finde es gut dass du dich auch von Rückschlägen nicht mehr so sehr wie zu anfangs unterkriegen lässt. Bleib dran! 😉

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    1. Danke für den Zuspruch und die positive Rückmeldung, die mir gerade selbst aufzeigt, was sich da tut – Danke!
      Wünsche dir noch einen gesegneten Abend 🙂

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  2. Es ist so schön zu lesen, wirklich. Ich hatte ein Lächeln im Gesicht. Ja es gibt Rückfälle und ja es gibt Tage an denen man sich der Sucht hingibt..aber es gibt auch die anderen Tage. Mit Sonne, Vogel gezwitscher, Gespräche und Genuss..sei mutig ♡

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    1. Da kann ich dir nur zustimmen, gerade bei dir sehe ich zur Zeit das es verdammt schwer ist, aber sich lohnt. Und nur durch Mut, durchs rausgehen, kann man die Sonne wahrnehmen. Danke und dir noch einen hoffentlich ruhigen Abend ❤

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  3. Es ist schön zu lesen, dass Deine Sturheit Doris schön beiseite schiebt. Ganz toll und in dieser Situation ein extrem großer Erfolg. Also wieder mal 1:0 für Dich und Deine Sturheit 🙂 Ich wünsch Dir auch für den heutigen Tag viel Zuversicht und Kraft ❤ Alles Liebe!

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