Essmodus

Wie soll ich sitzen, stehen, gehen, selbst liegen ist unbequem… Der Bauch spannt, nach vorne gewölbt, scheint zum platzen voll. Egal wie ich mich wende, es gibt keine Position die leichter erscheint, die das aushalten einfacher erscheint. Ich esse nie wieder! Hahaha, schon jetzt lache ich über diesen Gedanken – ich und nicht mehr essen… die Phasen sind vorbei, ich bin einfach zu schwach dem Drang zu essen zur Zeit zu widerstehen. Das Völlegefühl ist drückend, erdrückt mich, lässt mich schnaufend atmen. Doris schreit: Geh kotzen, dann geht es dir wieder gut, kotzen schafft Erleichterung. Verdammt nein! Auch wenn es scheint als würde mein Darm jederzeit platzen, so voll ist er, ich halte aus! Ich werfe nicht meine Erfolge weg. Auch wenn Bilder im Kopf rum schwirren, von dem was die Kalorien anrichten – Schokolade, Eis, Sirup, Brot, Käse, Nüsse…trotz schon zu spürendem Völlegefühl geht trotzdem das Essen noch weiter. Ich brauche das jetzt, hämmert es im Kopf und wie ferngesteuert esse ich weiter. Die Zeit, die jetzt kommen wird – ich ahne sie, ich kenne sie, ich fürchte sie. Die Phase die ich erreicht habe nenne ich Essmodus. Ich bin jetzt an dem Punkt an dem ich entscheide, auch wenn ich zu viel gegessen habe nicht kotzen zu gehen, habe die Barrikade um das „übers Klo beugen“ wieder aufgebaut und sie wird mit jedem Tag dicker, mit jedem Tag lege ich einen Stein mehr zwischen mich und Doris, die Überwindung ihren Aufforderungen zu folgen wird größer… Die Gedanken die sie mir eingibt beeinflussen mich dennoch, leider ist es keine schalldichte Mauer. Jetzt kommt die Zeit des unstillbaren Hungers, ich habe Hunger und esse, weil ja jeder sagt essen ist gut und nötig und darf ich. Auch ich selbst habe mir, bis zu dem Punkt an dem ich jetzt stehe, gesagt: trau es dir, verbiete dir nichts… Ungesund ist auf einmal nicht mehr verboten, es ist ok, es darf sein. Soweit so gut, ich bin gesprungen von sauren Gurken auf Gummibärchen, von Möhren auf Schokolade, von Frischkäse auf Camembert, an den Salat kommen Nüsse noch und noch, und statt Naturjoghurt mit Quark mindestens Doppelt so viele Kalorien. Soweit alles gut, ich renne nicht mehr schreiend in Panik vor Lebensmitteln weg oder entsorge sie schnell im Klo. Es war ein großer Schritt des Kampfes, ein harter Weg – stabil bin ich bei weitem nicht auf der Stufe, aber erstmal angekommen. Das Problem nun ist: Lebensmittel werden noch als verboten eingestuft oder besser: mit warnrot markiert, aber gegessen, in Maßen (Naja, daran scheitert es auch schon…), aber verdaut. Ich vertrete nun die Einstellung verbiete dir etwas und das Verlangen wird zu groß und es kommt zum Fressanfall – ich verbiete es mir also nicht, weil ich keinen Fressanfall haben will. Fazit: mein Kühlschrank quillt über mit zig angefangenen Packungen und ich habe von Obst bis Gemüse alles da. Nun muss ich lernen mich einzuschränken. Leichter gesagt als getan…. oft habe ich keinen Plan was ich gerade essen möchte. Ach das und das… und das und das… und schon kann ich mich nicht mehr für ein was entscheiden. Bekomme ich dann etwas nicht was doch irgendwie in meinem Kopf rumgeisterte, bin ich enttäuscht und frustriert – ich kämpfe gegen einen Fressanfall, weil einfach keine Befriedigung einsetzt. Nun muss ich also lernen Nein zu sagen, obwohl ich gerade erst ja zu sagen gelernt habe und lernen befriedigt zu sein, obwohl ich die seit eben erst spüre. Vielleicht ploppen bei  manchen jetzt Fragezeichen auf: Wieso isst sie nicht einfach das weiter worauf sie Lust hat und dann ist es gut? Erstens weil ich Ewigkeiten im Supermarkt verbringe, um das perfekte Lebensmittel zu suchen was mich glücklich macht und dabei werde ich entweder gar nicht fündig oder zu viel fündig. Aber viel wichtiger ist eigentlich zweitens, weil mein Körper bemerkt er bekommt alles was er will – Hungergefühl= Erlaubnis zum Essen also beschließt er für die nächste “harte“ Zeit einzulagern (so erkläre ich mir das) – ich habe ständig Hunger, den spüre ich ja jetzt wieder und achte auf ihn, was ihn mega präsent macht (vielleicht ist er manchmal auch nur eingebildet?). Also fasse ich mal zusammen: mein Körper weiß, er bekommt zurzeit etwas, wenn er ein Hungergefühl sendet, ich habe Hunger (obwohl ich vor einer Stunde erst ausreichend gegessen habe), ich nehme das wahr und esse und esse auch ohne Hunger, wenn ich denke ich könnte ja … Ich esse was mir gerade so in den Sinn kommt, ich verbiete mir noch kaum etwas, und auch wenn ich versuche meine Struktur einzuhalten, es irgendwie zu begrenzen, kann ich bei den Mahlzeiten nur schwer aufhören zu essen, aber da ich nicht kotzen gehe und das Völlegefühl aushalte nehme ich zu. Jetzt denkt ihr vielleicht ist doch nicht schlimm so ein paar Kilo … Es werden aber keine paar Kilo sein sondern zu viele für mich und mein Gehirn zum verarbeiten. Ich bin jetzt eigentlich schon an der Grenze zu dem was ich erstmal noch gerade so akzeptieren kann. Es geht so schnell. In der Klinik letztes Jahr waren es in einer Woche dann halt mal 5 kg (Wasserschwankungen sagten sie, aber die 5 kg blieben). Ich bin nun in der Phase in der das Verlangen ständig zu essen wieder sehr präsent ist, mit dem Unterschied zur ausgeprägten Bulimie: Ich lasse es meinen Magen verdauen. Ja vielleicht ist es oft auch emotionales Essen – doch ich habe zur Zeit keinen Bock mehr mich mit der Gefühlsduselei auseinanderzusetzen, ich habe kein Bock mehr alles zu kontrollieren, zu analysieren, ich habe kein Bock mehr auf Therapie, ich habe kein Bock mehr zu schauen, ob es jetzt richtig oder falsch ist zu widerstehen, ich habe keinen Bock mehr auf diese beschissene Essstörung, wann kommt denn endlich das Müllauto, das sie ein für alle Mal mitnimmt und endgültig ins Meer schmeißt – ich will einfach essen, aber genau das, würde mich früher oder später wieder die Mauer einreisen lassen, wenn ich jetzt aufhöre hinzuschauen – so war es beim letzten Mal, mit einem Rutsch wieder auf unterster Stufe. Ich muss (weil ich es will) mich also jetzt einschränken ohne Einschränkungen. Aufhören zu essen ohne gänzlich Nein zu sagen. In der Klinik ließ ich es einfach geschehen, ich aß einfach: die Ärzte und Schwestern jubelten im Background mit der Hymne: aushalten, annehmen, akzeptieren, essen ist gut – soll ich es einfach akzeptieren, dass ich mich mal unwohler, mal wohler fühle, so wie es dem Tag gerade einfällt? soll ich einfach annehmen, das die Gedanken dennoch kreisen und ich von einem unstillbarem Hunger immer wieder verführt werden? soll ich einfach Völlegefühl um Völlegefühl und den damit verbundenen inneren Druck aushalten? Vermutlich ja… Ich will es versuchen. Ich glaube hinter dem Hunger steht etwas, eine Neuorientierung, eine Suche nach etwas was die Essstörung ersetzt, aber habe ich  davon nicht genug? Ich habe gerade keine Zeit und Kraft mich so intensiv damit auseinander setzten. Prüfungen, Hausarbeiten, Termine, Feiern, meine neue Arbeit, Kontakte zu Freunden – ist das denn nicht genug? Und sogar Zeit für mich versuche ich einzuplanen – Fernsehabende, Gitarre spielen, Phantasiereisen, Beten, Spazieren – ist das denn nicht richtig? Verdammt was mache ich denn falsch? Ja ich bin frustiert und verzweifelt – es scheint so sinnlos, doch statt zu kotzen liege ich vollgestopft hier. Ich bin zu faul zum Sport, es ist zu warm, die Motivation fehlt – was ist denn nur los, sonst habe ich so zumindest einigermaßen das schlechte Gewissen beruhigen können? Habe heute sogar einen Mittagsschlaf gemacht. Und gerade jetzt wo ich motiviert zum lernen sein sollte. Wieso kommt diese Phase immer in den unpassenden Zeiten? Letztes Jahr zu Weihnachten war genauso ungünstig, auch über Silvester habe ich nur gegessen – im Januar dann ein kleiner Rückfall, doch der geplante Jakobsweg verhinderte den radikalen Absturz, der kam dann danach er ab März. Und jetzt in der Prüfungsphase… Oder kommt der Druck zum Essen gerade davon? Ach jetzt habe ich ein wenig den Faden verloren, mich selbst in eine Sackgasse argumentiert. Zumindest ist das Völlegefühl jetzt aushaltbarer. Eine Vorlesung und Inventur an der Arbeit steht heute noch an – es wird noch ein langer Tag obwohl er schon scheinbar so lang war… um 8 saß ich schon in der ersten Vorlesung. Aber trotz allem freue ich mich auf die Vorlesung und auch darauf meine neuen Kollegen wiederzusehen. Ich hoffe, mein Eintrag erscheint nicht allzu erdrückend – mir ist jetzt etwas leichter zu Mute 🙂

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Ich wünsche euch noch einen schönen Resttag und einen erholsamen Abend vom heißen Tag 😉

12 Gedanken zu “Essmodus

  1. Ich habe versucht einen hilfreiche Kommentar zu verfassen, aber irgendwie ist es mir nicht gelungen. Beim Lesen habe ich richtig mit dir gefühlt. Man bemüht sich, aber trotzdem bleibt die Sache mit dem Essen oder nicht essen so unglaublich schwer.
    Ich wünsche dir auf jeden Fall viel Kraft. Ich finde es echt toll, dass du trotz vielem Essen nicht jedesmal zum Klo rennst. Eines Tages wird dann sicher auch die Essmenge normal sein

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    1. Danke für deinen Kommentar. Es hilft allein schon verstanden zu werden. Es ist einfach kompliziert und manchmal so sinnlos, ich hoffe einfach das da was dran ist, an dem “Es ist richtig zu kämpfen“. Danke, ich wünsche dir auch viel Kraft ❤

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  2. Ich würde dir auch gerne was hilfreiches sagen, aber ich weiß nicht was. Es ist auf jeden Fall richtig zu kämpfen, das weiß ich ganz sicher.

    Ich habe letztens meine Waage wegetan, das war so nebenbei, und es gab Zeiten, da hatte ich 3 verschiedene Waagen, auf denen ich mich unzählige Male am Tag und in der Nacht gewogen habe, die Waage, mein Gewicht, die Essstörung, all das war mein Leben. Das ist zwar schon länger her, aber damals wäre ich lieber gestorben als zum Beispiel zuzunehmen und heute werfe ich meine Waage weg, ohne es wirklich zu bemerken. Das schreibe ixh,um zu sagen: Es ist richtig zu kämpfen und es lohnt sich, auch wenn der Weg lang ist und eine Essstörung immer ein wenig im Hintergrund bleibt. Aber es kann so viel besser werden!!

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    1. Ja so eine Phase kenne ich auch … Danke das du mir diese einengende Abhängigkeit in Erinnerung rufst – ich kann so viel freier sein 🙂

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  3. Ich kenne das Problem, es gehört wahrscheinlich dazu. Der Körper freut sich – endlich das was er will und braucht.. und doch ist das Problem groß: was esse ich jetzt? Beim einkaufen viele Ideen – zuhause: Hunger, aber dies will ich nicht. Lieber etwas davon und hiervon. Du machst das wirklich super! Und ja, der volle Bauch ist wirklich unangenehm, aber es geht auch ohne deinen Kugelfisch weg. Du schaffst das! Ich glaube an dich ❤

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    1. Ja,aber das ding ist, bei dem jeden ein bisschen, bleibt es leider nicht bei den bisschen weil man auf den Geschmack gekommen ist :/ In der Klinik hab ich gesagt, Doris hat so genervt, da hab ich dir einfach verschluckt… Danke, es sind auch nur noch die Gedanken da, daran das es einfach zu viel war, aber sie sind aushaltbar. Dir noch einen schönen Ressttag ❤

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  4. Da du ja schreibst, dass du so viele angefangene Päckchen in Deinem Kühlschrank hast: wäre es z.B. eine Idee, wenn Du täglich in den Supermarkt gehen würdest und das kaufst, was du am entsprechenden Tag essen möchtest? Mir hilft das gerade ziemlich und schränkt die Fressanfälle ein. Und in den Supermarkt zu gehen, ist für mich auch ein wichtiger Lernprozess. Wobei ich gelegentlich dann dort stehe und mir denke: was will ich? Aber die Panikkäufe bleiben aus 🙂 Man kann sich durchaus auch inspirieren lassen, wenn man – ohne Hunger wohlgemerkt – zum Einkaufen geht 😉 Du bist stark und tapfer 🙂 Mit der Zeit wird es wieder anders sein – es dauert, bis deine Verdauung wieder läuft, keine Sorge 😉

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    1. Ein Tipp, den ich mal ausprobiere – danke 🙂 mir nur das Kaufen was ich gerade möchte und diese komischen Angebotstheken ignorieren… Ich werde wohl lernen müssen auch mal Nein zu sagen.

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  5. Hey,
    ich habe deinen Blog erst vor ein paar Tagen entdeckt, aber ich bin echt froh darum. Auch wenn ich keine Bulimie habe, bin ich wohl vertraut mit Essanfällen und dem ganzen Drum und Dran. Ich war so erleichtert über diesen Eintrag, weil ich mich einfach in dem ganzen Essdilemma wiedergefunden habe. Ich kenne dieses Gefühl, nicht zu wissen, was man essen soll, die Suche nach Befriedigung, das sich nicht entscheiden können. Jedenfalls tat es gut, zu lesen, dass es auch anderen so geht. Von dem bisschen, was ich bis jetzt von dir gelesen habe, muss ich jedenfalls sagen: Respekt! Ich bewundere es wirklich, wie du mit der Krankheit umgehst. Weiterso 🙂

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    1. Hi, danke für deinen Kommentar! es tut mir auch gut zu lesen, dass es nicht nur mir so geht. Das blöde ist ja, auch wenn man was gegessen hat und es irgendwie dann doch das “falsche“ war… Danke 🙂 Ich wünsche dir einen schönen Tag 😉

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